Ikone des deutschen Nachkriegsstädtebaus ahistorisch überformt – Die Kasseler Treppenstraße
Die in den 50er Jahren gebaute Treppenstrasse in Kassel gilt als eine der ersten Fussgängerzonen der Bundesrepublik. Ihre offene Gestaltung sollte Ausdruck der jungen demokratischen Gesellschaft sein. Mit dem »Obelisk«, einem von der Stadt angekauften Documenta-Kunstwerk, das 2019 in die Achse der Treppenstrasse versetzt wurde, wird dieser Stadtraum grundlegend in seiner Aussage umgedeutet (Red. Hessische Heimat).
Ein Ereignis in der documenta Stadt Kassel, das den öffentlichen Raum betrifft, erregte kürzlich viel Aufsehen: Im April 2019 wurde dort ein Kunstwerk der letzten documenta, »der Obelisk« des Kenianers Olu Oguibe, von seinem temporären Ort auf dem Königsplatz abgebaut. Er stand dort dezentral und unauffällig, den Platz nicht dominierend. Um den Ort auch künftig für die documenta bespielbar zu halten, war von vornherein klar, dass das Objekt wieder beseitigt werden musste. Das Kunstwerk gehörte aber zu denjenigen, die die Stadt erwerben wollte, sodass schnell Diskussionen über einen neuen Standort im Stadtraum geführt wurden, die lange zu keiner Einigung führten. Schließlich war auf der Stadtverordnetenversammlung vom 24.9. 2018 mehrheitlich »für den Verbleib des Obelisken (…) in der Treppenstraße« 1 votiert worden. Einen Tag darauf lehnte aber der Denkmalbeirat diesen Standort, der mittig auf der Achse der Straße sein sollte, ab und signalisierte Zustimmung bestenfalls, wenn er aus der Achse verschoben würde.
Da der Beirat in Kassel nach wie vor nicht öffentlich tagt, war diese Stellungnahme durch die Stadtgesellschaft nicht wahrnehmbar, ebenso nicht die gleichfalls ablehnende Position der zuständigen Fachebenen im Landesamt für Denkmalpflege und der nachgeordneten Unteren Denkmalschutzbehörde bei der Stadt. Beide müssen aber nach Hessischem Denkmalschutzgesetz bekanntermaßen zustimmen. Nur wenn dies nicht der Fall ist, kann ausnahmsweise auf Weisung des zuständigen Landesministeriums gehandelt werden. Eine solche Weisung war, wieder ohne öffentliche Wahrnehmungsmöglichkeit, in diesem Fall in enger Absprache mit dem Künstler, initiiert durch die Stadt, erfolgt. Angesichts des dann stattfindenden Aufbaus des immerhin 16 m hohen Obelisken (bestückt mit der viersprachigen Inschrift des Bibelzitats »Ich war ein Fremdling und ihr habt mich beherbergt«) genau auf der Mittelachse der Treppenstraße trat der Vorsitzende des Denkmalbeirats zurück. In seiner Begründung heißt es, dass »ein Standort in der Achse der Treppenstraße (…) als indiskutabel bewertet (wurde), da er, die nationalsozialistische Planung aufgreifend, die Bemühungen einer am demokratischen Wiederaufbau der Stadt Kassel orientierten Planung, die gerade die Monumentalität der Achse brechen wollte, konterkarieren würde«. 2 Diese Argumentation wurde von der Lokalpresse trotz eines Leserbrief-Ansturms redaktionell nicht aufgegriffen, stattdessen das Fest zur Eröffnung »eines neuen Platzes« um den Obelisken begrüßt. Moniert wurde lediglich, dass ein störender Sonnenschirm der McDonald-Filiale lange »in der Sichtachse von der Treppenstraße in die Innenstadt stand« (Abb. 2) 3.
Hintergründe
Sichtachse ist durchaus das treffende Stichwort, um die Zusammenhänge im historischen Kontext verstehen zu können. Denn die Treppenstraße ist nicht irgendeine beliebige Straße aus der frühen Kasseler Nachkriegszeit, sondern eine herausragende dieser baulichen Epoche. Sie wurde bereits gleich nach ihrer Fertigstellung 1957 von dem namhaften Dresdner Städtebauer Wolfgang Rauda »als Beispiel von europäischem Rang eines neuen Raumwollens« gewürdigt. Sie stünde gar »am Anfang einer neuen Städtekultur«. 4 Auch in der Folge ordnet die Architekturgeschichtsschreibung die Treppenstraße in Kassel zusammen mit der Holstenstraße in Kiel als die »ersten innerstädtischen Fußgängerparadiese« in Westdeutschland ein,5 wenn beide auch nicht ganz an ihr Vorbild der Lijnbaan in Rotterdam heranreichen würden. Bis heute bezeichnet die internationale Fachwelt diesen Ort in Kassel »as a symbol of a fundamentally new beginning«. 6 Sie steht also stellvertretend für die neue Auffassung von Architektur und Städtebau der (Wieder-) Aufbauzeit, die sich bewusst abwendet von der Architektursprache des gerade überwundenen Faschismus in Deutschland und Europa und einer neuen »Stadtlandschaft« huldigt. Statt der räumlichen Orientierung auf mächtige Achsen mit vorbestimmten Blickbeziehungen verkörpert die Treppenstraße beispielhaft das pure Gegenteil: die Freiheit des unreglementierten Blicks als emotionale Erfahrbarkeit von wieder gewonnener Individualität des Lebens in einer Demokratie. Sie gilt geradezu als städtebauliche Ikone hierfür (Abb. 1). Bewusst wurde in dem Entwurf von Werner Hasper seinerzeit das EAM-Hochhaus (Architekt Walter Seidel) am oberen Ende dieser Straße als städtebauliche Dominante der Gesamtfigur nicht in die Achse, sondern an den Rand gelegt, damit frei fließende Blickbeziehungen weit über die jeweiligen Endpunkte der Treppenstraße als Bestandteil des »neuen Raumwollens« möglich sind. Genau solche Blicke sind durch die aktuelle Intervention elementar gestört. Der Blick vom hoch gelegenen Scheidemannplatz hinab in die offene Landschaft erhält nunmehr durch das neue Objekt einen irritierenden Bremspunkt. Und der Blick hinauf desavouiert das Hochhaus als dezenten städtebaulich- demokratischen Orientierungsort. 7 Der neu implantierte Obelisk übernimmt also eine ganz neue Deutungshoheit über die heute als Denkmal der 1950er Jahre geschützte städtebauliche Figur in ihrer Gesamtausdehnung. Dass dies nicht nur in Bezug auf das Wiederaufbau-Denkmal ein massives Problem darstellt, wird durch weitere Blicke in die Planungsgeschichte deutlich.
Bereits im vorletzten Jahrhundert gab es Begehrlichkeiten auf den städtischen Raum, der heute die Treppenstraße als Verbindung zwischen dem Friedrichsplatz und einem noch gar nicht existierenden Hauptbahnhof ausmacht. Der nach der Besetzung Kurhessens von Napoleon inthronisierte König Jérôme wollte in seinem Stadterweiterungsplan von 1811 mit dieser Straße, exakt in der heutigen Flucht, samt einem mächtigen Place Jérôme (etwa am heutigen Scheidemannplatz) sich als die neue Obrigkeit in den Stadtraum der Hauptstadt Westphalens, das er zum »kleinen teutschen Paris« ausbauen wollte, einschreiben – mit einem Denkmal mitten auf dem Platz als architektonischem Bezugspunkt in Form einer (Sieges-)Säule oder eines Obelisken mit eindeutigem Herrschafts-Duktus (Abb. 3).
Ein gleicher Platz an gleichem Ort taucht wieder auf in dem von Hofbaumeister Julius Eugen Ruhl gezeichneten Stadterweiterungsplan von 1833 – nach dem Rückzug Napoleons nun nach dem Landgrafen »Neuer Wilhelms Platz« benannt (Abb. 4). Dieser wie auch der Platz in dem städtischen Plan von 1866 ist wiederum mit einer mittig stehenden (Sieges-)Säule markiert. Mehrere andere Planungen befassen sich seit der Mitte des 19. Jh. mit Durchbrüchen in der heute gegebenen – mittlerweile Museumsstraße bezeichneten – Flucht, die allerdings alle einer wie auch immer gestalteten Landmarke entbehrten.
Die heutige räumliche Verbindung Treppenstraße beschäftigte die Politiker- und Planerköpfe also bereits lange vor der Existenz des Bahnhofs. Und auch dessen schließliche Positionierung im Stadtraum (1857 Fertigstellung) nahm eine für später geplante neue Verbindungsachse bereits gezielt in den Fokus. Ein Chronist berichtet 1907 rückblickend: »Unser eigenwilliger Kurfürst hatte befohlen, daß das neue Bahnhofsgebäude in direkter Verbindung mit dem schönsten Stadtteil, am Friedrichsplatz, gebracht werden wollte (…). Es ist nicht zu verkennen, daß dieser Plan von unserem Kurfürsten äußerst glücklich ersonnen und für das innere Bild unserer Stadt von eminenter Bedeutung war! Vom Austritt aus dem Bahnhof hätte man nach Vollendung der Straße sofort den herrlichen Blick auf den landschaftlich schönen Hintergrund, den Söhrewald, gehabt«. 8 Hier wird die monarchische Intention ungewollt zum frühen gedanklichen Fürsprecher der späteren demokratischen Realisierung.
Eine ganz andere Version für den Treppenstraßen-Bereich finden wir in den NS-Planungen zum Neuaufbau der zerstörten Gauhauptstadt Kassel, die 1944 von Rüstungsminister Albert Speer an verschiedene Planungsbüros beauftragt worden waren. In den von der ebenfalls beauftragten Stadt Kassel noch kurz vor Kriegsende verfassten Plänen dominieren drei strahlenförmig vom Bahnhof abzweigende Mega- Achsen die Innenstadt. Bei diesem von Stadtbaurat Heinicke so bezeichneten »Stadtkern neuer Gattung« läuft die mittlere Achse als »Durchbruch Friedrichsplatz – Hauptbahnhof« mit mächtigem räumlichen Herrschafts-Duktus durch den Stadtraum (Abb. 5). Auf dem dazugehörigen Fluchtlinienplan sind drei mittig aufgereihte Säulen/ Stelen/Obelisken hervorgehoben eingezeichnet (Abb. 6), die vom Bahnhof ausgehend axial genau auf das auf der Mittelachse des Friedrichsplatzes positionierte Standbild des Landgrafen orientiert sind (Abb. 7). Die südlichste der Stelen steht – nur ein Stück nach Westen verschoben – fast genau am heutigen Standort des Oguibe-Objektes. 9 Die gleiche axiale Beziehung zum Friedrichsplatz mit einer getreppten Anlage samt einer Stele auf einem kleinen ovalen Platz zeigt der ebenfalls von Anfang 1945 stammende Aufbauplan für die Gauhauptstadt Kassel von Werner Hasper, dem schon erwähnten späteren Entwurfsverfasser der heutigen Treppenstraße. Selbst noch in seinem Beitrag für den Aufbauwettbewerb der Innenstadt im Nachkriegs-Jahr 1947 entwirft selbiger Hasper eine Treppenanlage, die nun zwar aus der mittigen in die heutige Flucht verschoben liegt, aber eine Stele einschließt, die ebenfalls nahezu exakt auf dem heutigen Standort steht.
Als der ehemalige Kasseler Stadtbaurat Gerhard Jobst (1928–1941) zu der ersten Sitzung der Wettbewerbs-Jury anreiste und beim Heraustreten aus dem Hauptbahnhof die ehemals dichte Gründerzeitbebauung des Viertels nur noch als Trümmerfeld vorfand, soll er entzückt gewesen sein von dem so lange nur geplanten, jetzt (endlich) freien Blick in die Landschaft.
Mehrere Arbeiten des Wettbewerbs für den Wiederaufbau der Innenstadt beinhalteten einen Durchbruch vom Bahnhof zum Friedrichsplatz – allerdings alle frei von irgendwelchen dominanten Landmarken, wie auch die des 2. Preisträgers Diez Brandi. Die Jury sprach dieser Arbeit »eine Fülle reizvollster Lösungen und einen ungeahnten Reichtum an heiteren Ideen« zu und davon, dass »auf verschiedenen neuen Wegen, zum Beispiel vom Bahnhof zum Friedrichsplatz über Stufen, Terrassen, Plätze und Ausblicke überraschende räumliche Erlebnisse zu erwarten« seien. 10 Der Verfasser selbst erläutert: »Vom Friedrichsplatz ist der Blick über diese, nach südlichem Vorbild gestaltete Treppenanlage zum Bahnhofsturm hinaus freigelegt«. 11
Von den Preisträgern wird jedoch niemand mit der (Wieder-)Aufbau-Planung beauftragt, sondern der o. g. Werner Hasper, der mit seinen besonderen Beziehungen zur örtlichen Politik 1948 zum mit vielen Vollmachten ausgestatteten Leiter der Stadtplanung ernannt wird. 12 Er erfindet sich, wie viele seiner Kollegen mit NS-Vergangenheit auch quasi neu, indem er sich von seinem fachlichen Vorleben verabschiedet als Weimars Gauhauptstadtplaner, Speers Rüstungsplaner in Thüringen (mit Bezug zum KZ Buchenwald) und den NS-affinen Entwürfen für Kassel, für die alle er nie Rechenschaft ablegen musste, etwa in einem Entnazifizierungsverfahren. Er bedient sich für seine Planung der Treppenstraße der Ideen mehrerer Wettbewerbsteilnehmer und legt 1950 die erste Variante einer »Fußgängerstraße Ständeplatz – Friedrichsplatz« vor. Ein Jahr später wird mit dem Bau seines Entwurfs für die ab dann so titulierte »Treppenstraße« begonnen.
Rückblickend erläutert Hasper seine Intention: »Wichtig war, zu zeigen, daß Kassel über der Fuldaniederung auf einem Plateau liegt, mit dem Steilabfall zur Fulda hin (…). Das brachte in der Planung schon die erste Idee, den Zugang zum Bahnhof zu verbreitern. (…). Ich riss die Kurfürstenstraße auf, um eindeutig den Zugang zur Innenstadt zu bekommen, mit der Folge, an dem Scheidemannplatz auch ein Loch zu machen, damit ich die Situation des abfallenden Geländes erkenne. Der Reisende kommt heraus (aus dem Bahnhof, Lü-Is.), wird durch den Sog der großen Straße herangezogen und überschaut die Situation Kassels, die Treppenstraße herunter mit dem Blick auf das Theater und die fernen Berge der Söhre. Das war ein Gesichtspunkt, die höhenmäßige Situation herauszustellen, und das hatte die Bebauung zwangsmäßig zur Folge«. 13
An anderer Stelle hatte Hasper festgestellt, »daß die Treppenstraße die Fortführung einer alten Bauidee zur Verbindung von Bahnhof und Innenstadt« 14 gewesen sei, womit er selbst den Hinweis gibt, nicht der Erfinder dieser räumlichen Figur zu sein, worauf er allerdings später immer wieder pochen sollte.
Mit dem von Hasper o. g. Theater war die Ruine des massiven, den freien Blick versperrenden kaiserzeitlichen Gebäudes am unteren Rand des Friedrichsplatzes gemeint. Die war zum Abriss bestimmt und für einen Neubau 1951 ein Wettbewerb ausgeschrieben worden, aus dem als erster Preisträger Hans Scharoun zusammen mit Hermann Mattern und Willem Huller hervorgingen. Einer von Scharouns Biografen erläutert zum Entwurf, dass der Bau so platziert werden sollte, »daß der Blick auf die Flußaue und die umgebenden Mittelgebirge wieder frei geworden wäre«, und »vom Friedrichsplatz, und damit von der Stadt, wäre das Theater durch eine neu angelegte Stadtautobahn getrennt worden. Scharoun wollte sie deshalb »überbrücken, um seinen Bau der Stadt nicht entgegenzustellen, sondern ihr mit ihm entgegenzukommen. Als vielleicht eindrucksvollsten Teil dieses an Erfindungen so reichen Modells hat er das Bühnenhaus (…) als Aufgipfelung der Dachlandschaft konzipiert, die mit den Kuppen des Kaufunger Waldes in einen Dialog hätte treten können«. 15 Die Idee der Treppenstraße wird hier gewissermaßen räumlich verlängert durch den getreppten Fly-over über die sog. »Stadtautobahn«, den Steinweg (Abb. 8). 16
1957 ist die Treppenstraße samt Randbebauung endgültig fertiggestellt. In ihrer funktionalen Verbindungsfunktion für den Fußgängerverkehr ist sie mit prallem Leben gefüllt. Dennoch wird sie 1978 Thema der Stadtpolitik angesichts der auszurichtenden Bundesgartenschau 1981. Für diese solle sie nämlich »noch attraktiver werden«, wobei allerdings sicherzustellen sei, »daß der Blick vom Scheidemannplatz auf Friedrichsplatz und Theater auf jeden Fall frei« bleibe. 17
Resümee
Der Impetus und die Bedeutung des ungebrochenen »freien Blicks« durch die heute existente räumliche Figur der Kasseler Treppenstraße seitens der Planungen durch mehrere Epochen, seitens der fachlichen Rezeption und auch seitens des öffentlichen Bewusstseins ist bis hierhin verdeutlicht, ebenso aber auch die spezielle andere Planungs- Intention in Kassels NSÄra. Und damit ist der Bogen zur heutigen Situation geschlagen. Denn der vordergründig betrachtet als nebensächliches Detail erscheinende, im Jahr 2019 in die Treppenstraße neu implantierte Obelisk ist ein dickes Problem für die Wahrnehmung der Architektur des Wiederaufbaus und zugleich für die Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte. Das Ougibe-Kunstwerk, in der Architekturform Obelisk grundsätzlich weitgehend der Geschichte von Kolonialismus und Eroberungskriegen entlehnt, tritt als neue raumbeherrschende Figur in den Stadtraum. Die Figur scheint den alten NS-Plänen entlaufen zu sein, wo sie als »Säule der Partei« 18 fungierte und steht nun dort, wo man die Überwindung des Faschismus baulich-räumlich zelebrierte. Das muss beunruhigen, dokumentiert dies doch eine erschreckende historische Unreflektiertheit in der Stadtpolitik. So sind wir mit diesem Monument an diesem Ort mit dem Auftakt für eine nachhaltig unscharfe und irritierende Erinnerungskultur konfrontiert. Das starke Denkmal Treppenstraße verkraftet zwar manche Fassadenklitterei oder die temporäre Bespaßung durch eine Eisrutsche. Aber der fest verankerte Obelisk in der Sichtachse bedeutet eine schizophrene Dauerbespielung, die der Straße jegliche eindeutige Identität nimmt. Da hilft auch nicht eine Freiraumgestaltung an dem »neuen Platz« mittels Einfassung des Obelisken durch Imitate der Tütenleuchten aus den 1950er Jahren, die wohl die Zugehörigkeit des neuen Objektes zu dieser Epoche suggerieren sollen. Eine künstlerische Arbeit mit dem Titel »I was a stranger and you took me where?« hinterfragt den Standort, ohne aber eine Antwort zu wissen, 19 wogegen eine Oppositionspartei im Stadtparlament Objekt und Standort als »entstellte Kunst« adelt, womit sie schamlos mit einer Anleihe aus dem NS-Sprachfundus spielt.
Es bleiben die offenen Fragen nach dem historisch unreflektierten Handeln der Stadt, nach der künftigen Bewertung der neuen Raum-Situation durch die Denkmalpflege und nach einer Positionierung für die künftige Raum-Bespielung seitens der documenta gmbh bisher ohne jegliche Antwort. 20
Wir danken der Hessischen Heimat für die freundliche Genemigung diesen Text an dieser Stelle zu veröffentlichen. Erstmalig erschienen ist der Aktikel im Heft 1–2/2020, 70. Jahrgang. Hier finden Sie die Übersicht aller Ausgaben.
Anmerkungen
- Kassel documenta Stadt, Beschluss der Stadtverordnetenversammlung, Ankauf des Obelisken, 24.9. 2018, S. 1.
- Matthias Lohr, »Nazistreit um den Obelisken, Ex-Vorsitzender des Denkmalbeirats kritisiert Oberbürgermeister und Künstler« (HNA vom 14.6.2019). – Der Denkmalbeiratsvorsitzende Dieter Hennicken hatte in einem Schreiben an den Kasseler Stadtbaurat Nolda vom 23.4.2019 seinen Rücktritt erklärt. In einem gesonderten Schreiben an den Künstler hatte er die NS-Stadtplanungsgeschichte Kassels dargelegt.
- Thomas Simon, »Obelisk soll Treffpunkt werden«, HNA vom 11.5. 2019.
- So in einem Vortrag vor der Kasseler Fachwelt, cob., Kasseler Treppenstraße ein »Beispiel von europäischem Rang«, Kasseler Post vom 2.2.1957.
- Wolfgang Pehnt, Deutsche Architektur seit 1900, München 2006, S. 275.
- Karl-Friedhelm Fischer, Kassel – ruptures and recoveries, in: Karl Friedhelm Fischer, Uwe Altrock (Eds.), Windows Upon Planning History, New York 2018, S. 117.
- Wie bewusst starre Blickorientierungen auf bauliche Obrigkeitsrelikte im Nachkriegsstädtebau abgelehnt wurden, zeigt der Umgang mit der Statue des Landgrafen aus der Mitte des Friedrichsplatzes (damals in Friedrich-Ebert-Platz umbenannt), die an den Rand versetzt wurde.
- Heinrich Schmittmann, Erinnerungsbilder, Kassel 1907, S. 50, nach: Karl-Hermann Wegner (Bearb.), Quellen und Perspektiven zur Entwicklung Kassels, Kassel 1993.
- Der Provinzialkonservator Friedrich Bleibaum bot diesem städtischen Planungs-Monster Mitte 1946 die Stirn. Er ließ einen bemerkenswert stimmigen Aufbauplan als Gegenentwurf zeichnen, der den tradierten Stadtgrundriss weitgehend berücksichtigt. In der internationalen Planungsgeschichtsschreibung wird dieses offensive Agieren der Denkmalpflege in Kassel sehr aufmerksam verfolgt und als Alleinstellungsmerkmal jener Ära gehandelt (ein Treppenstraßen-Motiv enthält der Plan nicht).
- Niederschrift über die Sitzung des Preisgerichts vom 22.7.1947, S. 8, zit. n. Björn-Holger Lay, Volker Schröder, Eberhard Siebert, Berücksichtigung freiraumplanerischer Aspekte in der Wiederaufbauphase, am Beispiel des Wiederaufbauwettbewerbs für die Kasseler Innenstadt, Kassel 1977.
- Diez Brandi, Einheit von Landschaft und Gestalt einer Stadt. Der zweite Entwurf aus dem Städtebauwettbewerb um den Aufbau Kassels, in: Göttinger Universitätszeitung (GUZ), Nr. 3/IV, o. A. (1948), S. 114.
- Zum Thema Wiederaufbauwettbewerb Kassel insgesamt siehe: Folckert Lüken-Isberner, Große Pläne für Kassel 1919–1949, Projekte zu Stadtentwicklung und Städtebau, Marburg 2017, S. 192–231.
- Gesprächsprotokolle, zit. n.: Björn-Holger Lay, Volker Schröder, Eberhard Siebert, Berücksichtigung freiraumplanerischer Aspekte in der Wiederaufbauphase, am Beispiel des Wiederaufbauwettbewerbs für die Kasseler Innenstadt, Kassel 1977, S. 190.
- »Neue Treppenstraße war auch in der Bürgerversammlung hart umstritten. Die Innenstadt soll keine reine City werden, meint Hasper«, Hessische Nachrichten vom 6.2.1952.
- Hoh-Slodczyk, Huse, Kühne, Tönnesmann, Hans Scharoun. Architekt in Deutschland 1893–1972, München 1992, S. 96 f.
- Der 1953 beauftragte und begonnene Scharoun-Bau wurde dann allerdings im Jahr darauf unter fadenscheinigem Vorwand (Gründungsprobleme) vom Land storniert und neu vergeben an Paul Bode, den Bruder des documenta- Gründers (der daraufhin aus dem BDA ausgeschlossen wurde). Noch bei der Entscheidung für den Bau der Philharmonie in Berlin erinnerte man sich dort an das sog. »Kasseler Debakel«.
- m. s., »Treppenstraße soll bis 1981 attraktiver werden«, HNA vom 7.4. 1978.
- So betitelte der Münchner Generalbauinspektor sein bauliches Implantat auf der geplanten Achse zum Münchner Hauptbahnhof, zu einer Abb. o. A. in: Hermann Giesler, Nachtrag aus unveröffentlichten Schriften, Essen 1988.
- Sina Rockensüß, I was a stranger and you took me where?, Studienarbeit an der Kunsthochschule Kassel, Kassel 2020.
- Das Stadtlabor im Freien Radio Kassel (FRK) übertrug am 27. und 28.7.2019 ein Gespräch zwischen der Architekturhistorikerin Kerstin Renz, Folckert Lüken-Isberner und Moderator Klaus Schaake (freies-radio-kassel.de).