Das Kasseler Industriedenkmal Salzmann & Comp. und seine Bedeutung für die Architekturgeschichte

Im Jahre 2014 erfolge ein europaweiter Aufruf zur Erhaltung des Industriedenkmals Salzmann & Comp. durch den Deutschen Werkbund, angeführt von Dr. Folckert Lüksen-Isberner. Beim damaligen Werkbundtag in Leipzig wurde davor berichten. Aktivisten, darunter zwei Mitglieder des Werkbunds retteten damals wertvolle Buntglasfenster aus der Chefetage des Gebäudekomplexes und brachten das „Salzmannwatch“ Banner an. Der Eigentümer drohte damals mit rechtlichen Konsequenzen.

 

Die Fabrik von Salzmann & Comp. steht heute als noch verbliebene Großanlage aus der für Kassel so prägenden Epoche der Industrialisierung sehr umfassend unter Denkmalschutz. Dieser wird gleich vierfach begründet: aus geschichtlichen, aus künstlerischen, aus städtebaulichen und aus technischen Gründen. Die Denkmalpflege kann nicht mehr Punkte vergeben. Die Fabrik ist somit als ein ausgesprochen hochkarätiges Kulturdenkmal einzuordnen.  

Im Jahr 2012 erfolgte eine deutliche Zäsur im Umgang mit der Anlage, die seit fast vierzig Jahren nur teilweise genutzt war. Denn das letzte Umnutzungskonzept des Eigentümers scheiterte Mitte des Jahres, nachdem bereits mehrere frühere Konzepte an der Unverträglichkeit mit den Entwicklungskonzepten der Stadt oder des Zweckverbands Raum Kassel gescheitert waren. Bei diesem letzten Konzept war die Stadt Kassel selber involviert gewesen, indem sie sich mit einem Technischen Rathaus in das Objekt einmieten wollte. Es zerbrach an Unstimmigkeiten zwischen dem Hauptmieter Stadt Kassel und dem Eigner bzw. am innerem Widerstand aus dem Rathaus selber – viele Mitarbeiter wollten nicht aus den Innenstadtlagen ihrer Büros in den (alt)industriellen Osten umziehen. Die Verträge mit den Mietern – Kulturschaffende, Büros, Agenturen – waren bereits  gekündigt, und auf dem Gelände waren die großflächigen Websäle mit ihren Sheds schon  abgerissen und Entkernungsarbeiten am Hauptgebäude  vorgenommen worden. Eine begonnene Baustelle lag verlassen und dem Zugriff durch Unbefugte ungeschützt da und die die üblichen Ausweidungsaktivitäten begannen. Schnell verlauteten Abrissphantasien, auch aus dem Rathaus. Dies war der Anlass für die Gründung einer Initiative, die sich breit formierte und auf verschiedenen Ebenen für den Erhalt des Denkmals, seine Sicherung und eine verträgliche Neunutzung einsetzte. Eine Vortragsreihe wurde initiiert, die Erfahrungen mit dem behutsamen Umgang mit vergleichbaren Objekten einbrachte. Die Stadtgesellschaft wurde breit einbezogen durch eine Petition, es wurden Sicherungsmaßnahmen in Eigenregie durchgeführt, wertvolle Objekte des Innenausbaus in Ersatzvornahme für die Passivität der Zuständigen vor dem weiteren Klau gesichert. Im November 2014 wurde ein Aufruf an die internationale Fachwelt gestartet, der die architekturgeschichtliche Bedeutung der Salzmann-Fabrik in Kassel stärker in den Blick nimmt. 

Auf denjenigen Aspekt der Denkmalwürdigkeit, der sich aus „technischen Gründen“ herleitet, soll hier kurz eingegangen werden. Dabei wird das Wechselverhältnis von Baukonstruktion und Architektur betrachtet: ein selbstverständlicher Blickwinkel für die Fachwelt, nicht jedoch für die breite interessierte Öffentlichkeit. Für diese wurde ein Text verfasst und auf Veranstaltungen gestreut. Eine ähnliche Fassung wurde im März des Jahres in Interview-Form im Rundfunk ausgestrahlt (Freies Radio Kassel).

(…) Die beiden heute noch bestehenden Hauptgebäude in ihrer zweiflügeligen Anordnung stellen den ausgeprägtesten und letzten baulichen Stand der Unternehmensentwicklung dar. 1905 (Gebäude an der Sandershäuser Strasse) und 1912-13 (Gebäude auf der Grundstückstiefe) entstanden, verkörpern sie großvolumige mehrgeschossige Produktions- und Verwal-tungsbauten auf dem modernsten Stand ihrer Zeit. Der „modernsteStand ist allerdings beim Blick von außen in keiner Weise ersichtlich. Im Gegenteil: präsentieren sich doch sehr traditionelle Fassaden in Backstein gemauert, wie wir sie aus früheren Baugeschichtsepochen kennen. Auch die Formensprache – vorgesetzte „gotische“ Treppengiebel, vertikal gegliederte Wandflächen, horizontal umlaufende Ornamentbänder, Fenster mit Halbrundbögen – signalisieren eher „Vergangenheit“, keinesfalls aber die aufkommende „Moderne“. Es war zu der Entstehungszeit in den 1910er Jahren üblich, dass die Architektur in der Regel noch keine eigene Formensprache für die neuen Industriebauten gefunden hatte, die in ihren Hüllen modernste Anlagen für die Produktion bargen. Stattdessen wurden die Großanlagen für die neuen Aufgaben des Industriezeitalters – das galt auch davor schon für Bahnhöfe, Markthallen oder Einkaufsgalerien - mit historisierenden Fassaden verkleidet. Die Industriebarone wollten mit ihren Funktionsbauten repräsentieren, wie die Feudalherren mit ihren Herrensitzen vor ihnen. Zugleich galt es, das hässliche Gesicht der industriellen Produktion ästhetisch zu kompensieren. Während die Architektur mit dem Jugendstil  noch Anfang des 20. Jhdts. ihren letzten eigenen Ausdruck fand, bevor die Architektur-Moderne sich breit durchsetzte, hatte die Entwicklung im Bauingenieurwesen  längst zu revolutionären Erneuerungen gefunden: Der Kristallpalast 1851 in London oder die Maschinenhalle der Weltausstellung in Paris 1889 demonstrierten, wie sich mit Eisenkonstruktionen Großräume erstellen ließen, die bis dahin nicht erreichbare Spannweiten ermöglichten und in Verbindung mit Glas ungeahnte lichtdurchflutete, fast immaterielle Situationen schafften. Jedoch waren das reine Zweckbauten von Ingenieuren, denen sich die Architekten noch verweigerten. „Die modernen Baustoffe wie Eisen und Glas erscheinen in ihrer enthüllenden Wesenlosigkeit mit der Forderung der Körperlichkeit in der Architektur“ unvereinbar, meinte ausgerechnet der Architekt Walter Gropius, der dann mit den Faguswerken in Alfeld 1910-14 (heute Weltkulturerbe genau wegen dieser „Wesenlosigkeit“) selbst den Gegenbeweis erbrachte, wie auch mit dem Bauhaus in Dessau. Zu der Zeit existierten aber die großen Inge-nieurbauten wie die Bahnhofshallen in Eisen und Glas schon Jahrzehnte, nur eben noch mit den vorgeblendeten eklektizistischen Fassaden ihrer Architektenkollegen.

Auch die Salzmann-Bauten von 1905 und 1912-13, die nach hoher Wahrscheinlichkeit in dem renommierten Kasseler Büro Eubell & Rieck (u.a. Rote Kreuz-Krankenhaus in Kassel) gezeichnet wurden, verkörpern noch diesen Widerspruch von moderner Ingenieurkonstruktion und historisierender Fassade. Beide Flügel haben ein Tragwerk aus Eisenbetonstützen, die durch Moniereisen mit den Eisenbetondecken verbunden sind und diese tragen. Das war ein damals neuer konstruktiver Materialverbund, der die bis dahin üblichen Decken aus Eisenträgern mit Mauergewölbe ablöste. Die Stützen stehen gereiht frei im Raum. Tragende Wände im Innern entfallen somit. Folglich konnten Maschinen heute so und morgen anders platziert werden: Was vorher schon in der früheren Phase der Industrialisierung mit Stützen aus Eisen ebenso möglich war (siehe den heutigen Saal im Südflügel des Kasseler Hauptbahnhofs), ging jetzt in einer feuerfesten Ausführung.

Speziell die Dachgeschosse bei Salzmann haben die Besonderheit, dass sie ganz ohne Stützen auskommen. Dabei dokumentieren die Dachkonstruktionen der beiden Gebäude die Entwicklung von einer Holz-Eisen-Konstruktion hin zu einer reinen Eisenbeton-Konstruktion (innerhalb weniger Jahre) in ein und derselben Anlage. Handelt es sich bei dem Gebäude an der Sandershäuser Strasse um eine damals schon lange etablierte  Eisengitterkonstruktion, die das Dach stützenfrei trägt, so ist es bei dem jüngeren Bau eine Eisen-betonkonstruktion mit halbrund ausgebildeten Rippen. Längsträger aus Beton verbinden die Rippen miteinander und tragen eine traditionell aussehende (aber in Beton ausgebildete) seitliche Dacheindeckung. Der Mittelteil des Daches  ist flach ausgebildet und weist eine gläserne Dachlaterne auf. Diese kantige Dachhülle steht noch im Widerspruch zu der modernen Betonrippenkonstruktion, deren Schwung sie eigentlich aufnehmen könnte (Abb. 1).

Abb. 1: Textilfabrik Salzmann Kassel (Gebäudeteil 1912-13), Oberlichtboden mit Dach in Eisenbetonrippenkonstruktion, traditionelle Dachhülle mit Dachlaterne. Architekt (wahrscheinlich) Eubell & Rieck<br/>Aufnahme 2011: Chr. Presche
Abb. 1: Textilfabrik Salzmann Kassel (Gebäudeteil 1912-13), Oberlichtboden mit Dach in Eisenbetonrippenkonstruktion, traditionelle Dachhülle mit Dachlaterne. Architekt (wahrscheinlich) Eubell & Rieck
Aufnahme 2011: Chr. Presche

Dass ein ähnlicher Bau bereits an anderem Ort schon in diesem Gleichklang von innen und außen realisiert wurde, zeigt die zeitgleich entstandene Emaille- und Metallwarenfabrik in Bratislava: die rein gläserne Dachhülle nimmt dort vollkommen harmonisch den konstruktiven Schwung der Betonrippen auf. Die Tragkonstruktion der Ingenieure ist hier jetzt  von der Architektur unverfälscht akzeptiert. Der Architekt Heinrich Zieger lässt die Konstruktion als von innen wie außen gleichermaßen elementares, sichtbares Element der Gesamtgestalt des Baukörpers zur Geltung kommen (Abb. 2). Es bedarf also keiner kaschierenden Fassade mehr: die moderne Architektur im Industriebau ist somit manifest (form follows function).

Abb. 2: Emaille- und Metallfabrik Bratislava (1912), Halle mit Dach in Eisenbetonrippenkonstruktion, moderne Dachhülle in Glas mit geschwungen aufliegenden Dachreitern. Architekt Heinrich Zieger<br/>historische Aufnahme: Architektur des 20. Jhdts.
Abb. 2: Emaille- und Metallfabrik Bratislava (1912), Halle mit Dach in Eisenbetonrippenkonstruktion, moderne Dachhülle in Glas mit geschwungen aufliegenden Dachreitern. Architekt Heinrich Zieger
historische Aufnahme: Architektur des 20. Jhdts.

Das Dachgeschoss des jüngeren Salzmann-Flügels dokumentiert uns heute also im originalen Zustand die architekturhistorisch letzte Stufe vor eben genau dieser Vollendung, die vermutlich an keinem anderen Ort mehr so vorhanden ist. Die bei Salzmann in Kassel und der Emaille- und Metallfabrik in Bratislava angewandten Betonrippenkonstruktionen wurden integraler Architekturbestandteil bei vielen weiteren Bauten, im Industriebau ebenso wie bei Bauten für Handel, Messen, Versammlungen, Kirchen, etc. Das Atelier Esders in Paris (Abb. 3) und die Jahrhunderthalle in Breslau (Abb. 4) - heute Weltkulturerbe -, die mit ihren gewaltigen Spannweiten als Markstein für diese Konstruktionsweise gelten, sind berühmte weitere Beispiele für hochkarätige Kulturdenkmäler in diesem architekturhistorischen Zusammenhang. Und die Kasseler Salzmann-Fabrik hat als Industriedenkmal ihren unverrückbaren Platz in dieser Entwicklungslinie. Das viel beachtete Kasseler Weltkulturerbe im Westen hat in dem wenig beachteten Industriekulturerbe Salzmann im Osten ein gewichtiges Pendant, das übrigens vom Endpunkt der virtuell verlängerten Achse der Wilhelmshöher Allee punktgenau hinüber grüßt.

Abb. 3: Große Halle Konfektionsatelier Esders Paris (1919), Dach in Eisenbetonrippenkonstruktion, Dachfläche vollständig in Glas aufgelöst. Architekten Auguste und Gustave Perret<br/>historische Aufnahme: Architektur des 20. Jhdts.
Abb. 3: Große Halle Konfektionsatelier Esders Paris (1919), Dach in Eisenbetonrippenkonstruktion, Dachfläche vollständig in Glas aufgelöst. Architekten Auguste und Gustave Perret
historische Aufnahme: Architektur des 20. Jhdts.
Abb. 4: Jahrhunderthalle Breslau (1911–13), Kuppeldach in Eisenbetonrippenkonstruktion, konzentrische Ringe mit Lichtbändern. Architekt Max Berg<br/>historische Aufnahme: Architektur des 20. Jhdts.
Abb. 4: Jahrhunderthalle Breslau (1911–13), Kuppeldach in Eisenbetonrippenkonstruktion, konzentrische Ringe mit Lichtbändern. Architekt Max Berg
historische Aufnahme: Architektur des 20. Jhdts.

 Quellen

  • Stadt Kassel (Hrsg.), Jörg Katz, Guntram Rother, Gesamtanlage: Sandershausen,  Denkmalbuch der Stadt Kassel, Kassel 1980
  • Walter Gropius, zit. nach: Peter Gössel, Gabriele Leuthäuser, Architektur des 20. Jahrhunderts,   Bonn 2012, S. 139
  • mdl. Information des Kunsthistorikers Thomas Wiegand, Kassel

aus: Hessische Heimat, 2014, Heft 3

Datum

29.04.2024

Verfasser

Dr. Folckert Lüken-Isberner (DWB, GSU)

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Abb. 1: Textilfabrik Salzmann Kassel (Gebäudeteil 1912-13), Oberlichtboden mit Dach in Eisenbetonrippenkonstruktion, traditionelle Dachhülle mit Dachlaterne. Architekt (wahrscheinlich) Eubell & Rieck<br/>Aufnahme 2011: Chr. Presche
Abb. 2: Emaille- und Metallfabrik Bratislava (1912), Halle mit Dach in Eisenbetonrippenkonstruktion, moderne Dachhülle in Glas mit geschwungen aufliegenden Dachreitern. Architekt Heinrich Zieger<br/>historische Aufnahme: Architektur des 20. Jhdts.
Abb. 3: Große Halle Konfektionsatelier Esders Paris (1919), Dach in Eisenbetonrippenkonstruktion, Dachfläche vollständig in Glas aufgelöst. Architekten Auguste und Gustave Perret<br/>historische Aufnahme: Architektur des 20. Jhdts.
Abb. 4: Jahrhunderthalle Breslau (1911–13), Kuppeldach in Eisenbetonrippenkonstruktion, konzentrische Ringe mit Lichtbändern. Architekt Max Berg<br/>historische Aufnahme: Architektur des 20. Jhdts.
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